Musikauffassung

Zu den Grundlagen der Musik

Fakten und Folgerungen 

Die uns mehr denn je bedrängende Frage, was aus der Musik werden will, welches ihre der Gegenwart angemessene Gestalt sein könnte, welche Möglichkeiten für Neues noch gegeben sind, kann nicht lediglich von der Zeitsituation her gestellt werden, sie erfordert auch ein Überdenken und Im-Auge-Behalten der allgemeinen Grundlagen der Musik. Leider wird das vor einigen Jahren erschienene, mit mathematischem, philosophischem und sonstigem Gepäck mächtig befrachtete, 830 Seiten umfassende Werk „Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein“ von E. Ansermet, dem großen Dirigenten und Bahnbrecher Strawinskys, wohl nur von wenigen gelesen. Es dürfte daher keine müßige Angelegenheit sein, einige Gedanken zu den Fundamenten der Musik zu äußern. Zweck dieser Ausführungen ist es vor allem, auf ein paar ganz offen liegende, aber gerade deshalb wohl zu wenig beachtete Fakten hinzuweisen. 

Wenn es auch klar ist, dass die Musik nicht rein physikalisch, mit der naturgegebenen Obertonreihe, begründet werden kann, sondern dass es der Mensch ist, der die Musik macht und dass sie seine geistige Tat ist, so ist doch festzustellen, dass in den naturgegebenen Erscheinungen eine wichtige, nicht zu vernachlässigende oder auszuschaltende Voraussetzung musikalischen Gestaltwerdens liegt. Die Natur bietet dem Menschen ganz bestimmte Töne an, eben die Obertöne. Auf einem Naturhorn können nur sie hervorgebracht werden, und ein so genannter Hornsatz, der die Naturtöne des Instruments benützt, klingt besonders gut. Für die vokale Ausführung solcher Sätze (man denke an zweistimmige Jagd-, Wald-, Natur-, Wanderlieder) ist das ausgesprochene Wohlgefühl, das die Singenden dabei haben, bezeichnend. Es muss also auch beim Menschen eine Bereitschaft für diese Töne vorhanden sein. Ist es nun richtig, wenn solch musikalisch Ursprüngliches gänzlich ausgeschlossen wird, wie das in der heutigen Musik doch weithin grundsätzlich geschieht? Sollte nicht auch der fortgeschrittenste Zustand von Musik wenigstens noch spurenweise, wenigstens noch dann und wann daran erinnern?

Dass das Gesetz der Obertöne für die Musik von eminenter Bedeutung ist, zeigt sich schon beim ersten Oberton, den die Natur uns schenkt. Es ist die Oktave, und wir hören sie als einen zwar höheren, aber doch zugleich mit dem Grundton identischen Ton. Damit ist eine Gliederung des Tonraums gegeben, die verwirrende Fülle einzelner Tonexistenzen wird überschaubar, hohe und tiefe Lagen können im Unisono erklingen, es kann eine Tonleiter geben, die einen Anfang und ein Ende hat, Dreiklänge können umgekehrt werden usw. Und wieder die Entsprechung beim Menschen: Was bei einer klingenden Saite oder Pfeife vor sich geht, bestimmt auch die verschiedene Tonhöhe der Männer- und Frauenstimme – Erweis einer einheitlichen, bewunderungswürdigen göttlichen Schöpfungsordnung, die nicht außer Kraft zu setzen ist. Zwar differieren Sopran- und Bassstimmen um mehr als eine Oktave, aber die vergleichbaren Stimmen halten den Oktavabstand voneinander  ein (tiefster Ton der Bass- und der Altstimme im Allgemeinen ‚f’, höchster Ton der Tenor- und der Sopranstimme ‚a’). – Als nächstes Intervall nach der Oktave tritt in der Obertonreihe die Quinte auf. Sie begegnet uns ebenfalls in der Unterschiedlichkeit der menschlichen Stimmen: Man rechnet bei den Chortenören in der Tiefe noch mit ‚c’, bei den Bässen mit F, entsprechend bei Sopran und Alt, die Quinte kann somit als die von der tiefen zur hohen Männer- bzw. Frauenstimme reichende stimmliche Spannweite gelten. Keine starren Abgrenzungen, aber die Orientierung zu den Verhältnissen der Obertonreihe hin ist doch unverkennbar. Kann man nicht sagen, dass im Falle der Oktave und Quinte das Obertongesetz im Menschen Fleisch geworden ist? Und zwingt das nicht dazu, den obertonträchtigen Ton, den Naturton zum Ausgangspunkt der Musik zu wählen und nicht den obertonfreien Sinuston? Muss nicht die autonom elektronische Musik, die sich nicht mit dem auch für Stimmen oder traditionelle Instrumente Möglichen und dort Praktizierten begnügt und für die die Oktave ein Zufallsereignis ist, ein beliebiger Punkt in einem gestaltlosen, keinem Gesetz mehr unterworfenen Tonraum, am Menschen vorbei gehen, da sie zu wenig von seiner Struktur, von seinem Wesen in sich trägt?

Wenn also in den Obertönen Gewichtigeres beschlossen ist, als man zunächst denken möchte, dann ist auch noch darauf hinzuweisen, dass von 16 Tönen dieser Reihe 10 dem Durakkord angehören, nur 6 in ihn nicht eingeordnet werden können. Die Natur gibt also dieser Harmonie ein nicht weg zu diskutierendes Übergewicht. Berücksichtigt man, dass die Obertöne, je weiter sie sich vom Grundton entfernen, desto schwächer sind, so verschiebt sich das Verhältnis 10 : 6 sogar noch wesentlich zugunsten der im Durklang liegenden Töne, weshalb auch von den über dem 16. Ton liegenden Obertönen ohne weiteres abgesehen werden kann. Ist es nun nicht bedenklich, dass die Musik heute die Dreiklangsharmonie vollständig missachtet, dass ein Kritiker eine zeitgenössische Musik deshalb verurteilt, weil sie noch Dreiklänge enthält? Müsste man nicht umgekehrt es beanstanden, wenn sie fehlen? Das Verständnis für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ist heute, im Zeichen des Umweltschutzes, doch im Wachsen begriffen. Und die Musik soll der Naturgrundlage entbehren?

Ihre Gestaltwerdung ist freilich ein Akt des Menschen. Wenn wir drei dieser naturgegebenen Dreiklänge zusammenstellen, wenn wir dem Dreiklang über dem Grundton seine beiden nächsten Verwandten, den Dreiklang über der Ober- und den über der Unterquinte beigeben, so erhalten wir die Kadenz und aus ihr durch stufenweise Aneinanderreihung der einzelnen Akkordtöne die Durskala. Dieses kleinste sinnvolle musikalische Geschehen, das sich in der Kadenz abspielt (ein Spiel mit Tönen eines einzigen Dreiklangs kann noch nicht als musikalischer Vorgang bezeichnet werden), ist mit seiner spannungsgeladenen Konfrontation von Ober- und Unterdominante eine unvergleichlich prägnante Darstellung der Dynamik, die allen Lebensvorgängen eignet, ein Urvollzug von zwingender Kraft, der nicht anders gedacht werden kann, die Weltformel der Musik schlechthin. Uns wie aus dem Keim die Pflanze herauf wächst, wie daraus etwa der Baum wird und seine Zweige weit ausbreitet, so ist die ganze tonale Musik eine riesige Weitung, Ausfaltung dieses musikalischen Urvorgangs. Die Tonleiter wie Riemann aus der Kadenz abzuleiten, entspricht zwar nicht dem historischen Hergang, ist aber dadurch gerechtfertigt, dass Musik für uns Heutige mehr oder weniger mehrstimmige Musik ist. Ansermet gewinnt die Tonleiter durch bloßen Quintenaufbau und greift damit auf Pythagoras und seine Schule zurück. Beim Ausgangston ‚d’ ergibt sich, wenn man je drei Quinten nach oben und unten geht und diese Töne in den Raum einer einzigen Oktave transferiert, die dorische Leiter ‚d’ ‚e’ ‚f’ ‚g’ ‚a’ ‚h’ ‚c’ ‚d’, deren Töne auch von der bei den Griechen lydisch, später jonisch genannten, mit unserer Durtonleiter identischen Skala benützt werden. Nun deckt sich bei den nach dem Quintensystem gewonnenen Tonhöhen die große Terz allerdings nicht vollkommen mit der des Naturdreiklangs. Dieses Problem, die Frage, ob wir die Terz pythagoräisch oder als Naturterz hören, braucht hier nicht erörtert zu werden, da schon infolge unsrer „zurechthörenden“ Intervallauffassung der winzige Unterschied für das praktische Musizieren bedeutungslos ist. Aber sehen wir uns die harmonische Ableitung der Tonleiter durch Riemann nochmals an! Die Kadenz konstituiert sich durch zwei Quinten, die Ober- und Unterdominante, und diese beiden sind, wie ihr Name sagt, herrscherliche Töne. Erinnern wir uns daran, dass eine Unzahl von Menschen nichts anderes darstellen als ein Hin und Zurück zwischen den beiden Angelpunkten Grundton und Dominante. Wir können, wenn die Oktave das den Tonraum ordnende Intervall ist, die Quinte (das erste eigentliche Intervall, da die Oktave den Grundton wiederholt) auch das zeugende Intervall nennen. [Die Terz – bzw. Sexte – würde, wenn wir noch mehr Intervallen spezifische Funktionen zusprechen wollen, das Herzwärme spendende Intervall sein, die Sept als erste in der Obertonreihe auftretende Dissonanz der Unruhestifter]: Die beiden Quinten rufen, indem sie einander in der Kadenz gegenüber treten, mit ihren Akkorden die Musik ins Leben. Es ist daher doch wohl nicht falsch, wenn das aus dem Quintverhältnis der Kadenzakkorde (wie auch aus dem bloßen horizontalen Quintenaufbau der Pythagoräer) hervorgehende Tonsystem mit einem Absolutheitsanspruch auftritt. Versuchen wir, eine analoge „Kadenz“ mit dem Akkord der großen Oberterz und dem der großen Unterterz zu bilden, so zeigt sich die Unersetzbarkeit, Ausschließlichkeit der Quintkadenz deutlich: In der Akkordfolge ‚C’ ‚As’ ‚E’ ‚C’ müsste, schon auf dieser Anfangsstufe von Musik, ‚as’ in das ‚gis’ des E-Dur-Akkords umgedeutet werden, und es ergäbe sich eine Tonleiter, die mit dem periodischen Wechsel von 11/2– und 1/2-Tonschritten zwar ein Ordnungsprinzip demonstrierte, aber keinen einzigen Ganzton aufwiese.

Als lebendigem Organismus ist der Tonleiter der Vorgang von Spannung und Entspannung ebenso eingeprägt wie der Kadenz. Das zeigt schon die Gegenüberstellung der beiden Tetrachorde, aus denen sie besteht, in der ihren Halbtönen, dem aufwärts strebenden Leitton und dem abwärts geneigten Gleitton, entsprechenden Zielrichtung: Der scharfe Zusammenprall der Unter- und Oberdominante in der Sekunddissonanz (für C-Dur ‚f’-‚g’) führt über die von den Theoretikern oft auch als Halbdissonanz bezeichnete Quarte (‚e’-‚a’) und die Konsonanz der Sexte (‚d’-‚h’) zur vollkommenen Entspannung in der „Identität“ des unteren und oberen Grundtons. Ein verhängnisvoller Irrglaube war die Meinung Schönbergs, die Dur- und Molltonleiter, organisch lebendige Gebilde, könnten in der seiner Zwölftonmusik zugrunde liegenden gänzlich gesichtslosen chromatischen Skala aufgehen. Dieser ist das Signum des Künstlichen, Gewollten, nicht Gewachsenen auf der Stirn geschrieben. Die Durskala können wir ohne Stütze durch ein Instrument mit spielerischer Leichtigkeit in schnellstem Tempo singen. Wie mühsam ohne instrumentale Hilfe ist das dagegen mit der chromatischen Skala! Und man sollte doch denken, dass es chromatisch viel besser geht als diatonisch, da man nicht aufpassen muss, ob jetzt ein ganzer oder halber Tonschritt kommt. In Wirklichkeit können wir die chromatische Tonleiter nur von den diatonischen Stufen aus singen, indem wir ständig Alterierungen vornehmen (und unterschwellig wohl auch entsprechende Harmonien unterlegen). In schnellem Zeitmaß ist dieses komplizierte Denken nicht mehr möglich, wir haben dann die arithmetische Teilung der Oktave in zwölf unterschiedslos gleiche Stufen zu bewältigen, wobei unser musikalisches Realisationsvermögen streikt; denn das Ohr, wir können auch sagen das musikalische Hörbewusstsein, verlangt unabdingbar die geometrischen Proportionen, denen unsre Intervalle unterliegen [Einfachstes Beispiel die bei den Orgelregistern bezeichnete Oktavenfolge 2′, 4′, 8′, 16′, 32′ (nicht 2′, 4′, 6′, 8′, 10′)] und auf denen unser abendländisches Tonsystem fußt.

Hier wird evident, dass der Mensch auf die Tonalität hin angelegt ist, und dass alle Versuche, ihm ein grundlegend anderes System aufreden zu wollen, letzten Endes zum Scheitern verurteilt sind, oder dass diese anderen Ordnungen nur begrenzte Möglichkeiten in sich tragen in dem Maße, als sie noch, bewusst oder unbewusst, Verbindungen zum tonalen System enthalten, was auch bei Zwölftonmusik je nachdem noch der Fall sein kann. Man berufe sich doch nicht auf exotische Tonsysteme, die bekanntlich viel stärker instrumentgebunden sind (auf Instrumenten lässt sich natürlich alles Mögliche machen, was für eine auf den Menschen bezogene, also letztlich vokal abzuleitende Musik problematisch ist), auf Tonsysteme, deren Unvollkommenheit, Unterlegenheit sich ja gerade darin zeigt, dass ihnen die Entwicklung zur hohen Kunst versagt geblieben ist, dass sie nicht den Grad organischer Durchbildung erreicht haben wie das von den Griechen begründete abendländische. Für Pythagoras war die Welt der Töne eine Parallelerscheinung zur Struktur des Makrokosmos, der harmonia der Sphären, und des Mikrokosmos, der die leibseelische Natur des Menschen meint. Den Zusammenhang zwischen Mensch und Musik, den auch der Instrumentalismus nicht allzu sehr verlassen darf, glaube ich mit dem Vorstehenden in einigem deutlich gemacht zu haben. In der tonalen Musik ist er gewahrt. Die Tonalität aufgeben würde bedeuten, den Menschen aus der Musik zu verabschieden.

Wenigstens sollten die Avantgardisten Stimmen wie die von J. Rohwer nicht überhören, der in seiner Rezension von Ansermets Buch (in der Zeitschrift „Die Musikforschung“, 4/1967) schreibt: „Dem Leser kann sich ein nachdenklicher Zweifel aufdrängen, ob nicht doch vielleicht allein die Bindung an gewisse, wenn auch nur allgemeinste ‚kadenz-rhythmische’ Bezogenheit aller in einem Musikablauf vorkommenden Einzelheiten nicht nur ein plattes Vorverständnis, sondern eine voll erfüllte Bewusstseinsverwirklichung von Musik erst ermögliche.“

Welche Konsequenzen müssten aus der Neuwertung der tonalen Musik gezogen werden? Keinesfalls dürfte die Rückkehr zum tonalen Gesetz dazu führen, dass Tonalität eng verstanden wird. Man wird heut auch eine erweiterte, schwebende oder im Grenzfall auch nur angedeutete Tonalität noch gelten lassen können. Die formale tonale Geschlossenheit des Ganzen kann vielleicht mehr oder weniger in Frage gestellt sein, die Musik im einzelnen aber doch von tonaler Verständlichkeit sein, tonalen Geist noch in sich tragen. Im Zusammenhang mit der Forderung grundsätzlich tonaler Ausrichtung steht die Notwendigkeit der Erhaltung der Dreiklangsharmonie, denn aus Dreiklängen ist die Kadenz gebildet. Die Dissonanz als Störung des Dur- und Molldreiklangs kann nicht der Konsonanz gleich gestellt werden, wenn auch ihre Auflösung sehr verzögert und nachträglich geschehen kann. Natürlich ist der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz an sich nur ein gradueller. Aber in aller Musik, die noch dem mit der Kadenz gesetzten Ursprung der Musik verpflichtet ist, von diesem Geist sich wenigstens etwas noch erhalten hat (und auch in streng linearer Musik sind harmonische Einflüsse noch wirksam und lassen sich ohne Schaden nicht ganz ausschalten), ist er ein prinzipieller. Zugegeben, dass auf einer hoch getriebenen Stufe der Entwicklung mehr Freiheit herrscht, Gebote und Verbote entfallen, durch neue Notwendigkeiten überholt sind und in neuen Bezügen aufgehen. Aber irgendwie muss noch der Zusammenhang mit der einfachen Grundstruktur vorhanden sein, auch wenn er der flüchtigen Betrachtung sich zunächst verbirgt. Ich kann mir einen Tonsatz denken, der fast denselben Eindruck macht wie ein die Dissonanz freizügig behandelnder, und der trotzdem gewisse Auflösungstendenzen von Zusammenklängen berücksichtigt. Es entspricht sicher dem Geist unsrer Zeit, dass die Dissonanz, der härtere, intellektuellere Klang eine stärkere Rolle spielt. Also nicht einfach Säuberung der Musik von Dissonanzen. Aber ihrer vollständigen Freizügigkeit, ihrem willkürlichen Gebrauch kann man nicht ohne weiteres zustimmen. [Der in der Schlager- und Unterhaltungsmusik üblich gewordene Schluss mit der dem Grundton des Dreiklangs hinzugefügten Sext mag etwa den Zustand ausdrücken, in dem man sich willenlos dem Kreativen überlässt. In geistlicher Musik könnten solche Schlüsse von zeichenhafter Bedeutung sein, Hinweis auf die Unvollkommenheit, Stückwerkhaftigkeit all unsres menschlichen Singens und Sagens. Das sind aber außermusikalische Begründungen.] Auch die Chromatik sollte das Feld nicht allzu sehr beherrschen, denn in ihr vor allem sitzt die Gefahr der Überkompliziertheit, der Zerstörung des Natürlichen und Ursprünglichen. In starkem Umfang kann die Quartenharmonik herangezogen werden; sie gibt dem Satz, da auch die abspringende Auflösung immer sehr nahe liegt, modernes Gepräge und dürfte in ihrer Wirkung noch nicht zu abgebraucht sein. Selbst Cluster kleineren Umfangs kann man sich in ein System eingebaut denken, das die Dissonanz nicht voraussetzungslos zulässt. Schließlich sollten die Komponisten sich überlegen, ob es nicht besser wäre, auch wieder einmal eine sinnfällige Melodie zu komponieren. Es gibt in neuerer Musik oft nur noch keuchende Linien oder bizarre Gebilde von fast unmöglichen Intervallsprüngen. Warum soll der Sänger nur noch in extremsten Lagen sich bewegen oder nur noch Fetzten von Melodie singen dürfen? Ich würde es auch nicht als grundsätzlich verfehlt ansehen, wenn wir gelegentlich wieder etwas so Wohllautendes wie einen Hornsatz zu hören bekämen, auch wenn wir heute nur noch auf Ventil- und nicht mehr auf Naturhörnern blasen.

Aber ich höre den Einwand, dass das nicht weiter führt, dass all das tatsächlich eben doch abgedroschen ist und daher nur Langeweile verursachen kann. Hierzu sagt Ansermet, die Entwicklung der musikalischen Sprache sei nun einfach abgeschlossen (ungefähr mit der Musik Debussys), und der Komponist habe heute mehr oder weniger nur die Möglichkeit, die ein für allemal gegebenen Mittel in einer freien persönlichen Weise anzuwenden. Ersetzen wir die Forderung der Neuartigkeit durch die der Originalität, so lässt sich Hindemith zitieren: „Nicht alles Originelle ist gut, aber alles Gute ist originell.“ Es kommt auf die Qualität des Komponisten an! Selbst Schönberg hat die tonale Musik wieder in ihre Rechte eingesetzt: „Es gibt noch viel gute Musik in C-Dur zu komponieren.“ Und es wäre einmal die Frage zu stellen, ob der für die Welt der Technik maßgebende Gedanke des Fortschritts in der Kunst heute nicht ins Gegenteil, in den Rückschritt geführt hat, ob wir z.B. mit der Geräuschmusik nicht so gut wie auf dem Niveau der Primitiven angekommen sind.

Ansermet, der die Entwicklung des späteren Strawinsky nicht gut geheißen hat, hat alles, was dem – nicht allzu kleinkariert aufgefassten – tonalen Gebot sich nicht fügt, als Unsinn bezeichnet. So weit braucht man nicht unbedingt zu gehen. Die Beschwichtigung, dass eine serielle Musik, die vom Hörbewusstsein nicht mehr akzeptiert wird, vor Gott noch Anerkennung finden könnte, ist zwar wenig zufrieden stellend, solange Gott den Menschen oder einem durchaus verständniswilligen Teil von ihnen nicht Ohren und Sinn für die Qualitäten dieser Musik aufschließt. Aber es gibt zweifellos Fälle, wo man nicht von Unsinn reden kann. Auch seither sind mit Trommel, Becken, Triangel usw. der Musik Elemente hinzugefügt worden, die sich nicht tonal einordnen lassen. Und ähnlich können unter bestimmten Voraussetzungen, z.B. in der Programmmusik (und die wortgebundene Musik ist als Textinterpretation ja auch Programmmusik), gelegentlich Abirrungen vom tonalen Prinzip wie die Verwendung von Akkorden im Sinne bloßer Farbwerte, losgelöst von ihrer ursprünglichen Herkunft und harmonischen Zielstrebigkeit, hingenommen werden. Dass aber die Musik seit Debussy einer rein sinnlichen Reizsamkeit des Harmonischen immer mehr verfallen ist und schließlich den tonalen Boden ganz und prinzipiell verlassen hat, ist schlechthin vom Übel, und es wäre an der Zeit, dass die Schlichtheit und Unmittelbarkeit der Natur wieder mehr in die Musik hereingeholt würde. Die denaturierte Tonalität bei Schönberg musste ja schließlich auch zur Denaturierung der Akkorde und Intervalle in den Klangflächen etwa bei Ligeti oder Penderecki weiterführen, und die elektronische Musik hat die Denaturierung des Tons hinzugefügt. Welch ein Ausmaß von Unnatur! Man kann nun wohl Klangbänder oder Cluster im Sinn von „vorgefertigten Bauelementen“ verwenden, die mit der tonalen Organik nichts mehr zu tun haben, und so eine Musik auf andrer, a- oder antiorganischer Grundlage erstellen, in die auch die Geräuschmusik und Ähnliches, was eventuell sogar die Urtümlichkeit einer nicht verfremdeten, lediglich unerschlossenen oder ungebändigten Natur für sich haben könnte, einzurechnen wäre. Aber verbleiben wir damit nicht im Vorfeld von Musik? Muss das nicht auf kurze Episoden beschränkt bleiben oder vorsichtig in die wirkliche Musik eingepasst werden wie bisher schon das Schlagzeug, gegen dessen heute ausgiebigere Verwendung dann nichts einzuwenden wäre? Am ehesten gerechtfertigt sind die neuen Mittel, wo illustrative Absichten vorliegen, der Sinn woanders herkommt als von der Eigengesetzlichkeit der Musik. Das Rezitativ der Oper könnte einigen Anlass zu ihrer Anwendung geben. So gut wie man sich hier bisweilen mit dem gesprochenen Dialog begnügt, kann man das Wort auch durch solche Anders- oder Nichtmusik akzentuieren. Aber die großen Szenen sollten denn doch von wirklicher, und das heißt tonaler Musik getragen sein. Was die geistliche Musik betrifft, so hat Bornefeld mit dem „Buch Versammler“ ein Werk geschaffen, das neueste Verfahren der Chor- und Orgelpraxis für die Sinnaufschließung des Textes einbezieht, eindrucksvoll beschwörend in der Wirkung, wenn ich auch meine, dass das Element des durchsichtig Tonalen dabei zu sehr verdrängt ist. Als absolute Musik können die extremen Werke der Gegenwart mit der alten Musik nicht konkurrieren. Wenn man die neuesten Produktionen, die der Funk bringt, regelmäßig hört, bekommt man sie fast schneller satt als manche seit Kindheitstagen einem bekannte und oft gehörte tonale Musik. Es ist zumeist ein Überraschungsmoment, ein plötzlicher Wechsel, der berüchtigte Paukenschlag, was das Aufkommen von Langeweile verhindert. Aber davon kann eine Musik nicht leben, im Gegenteil, man hat in der klassischen Musik die bloße Abwechslung, den unmotivierten Übergang als Mangel an gestalterischem Vermögen angesehen.

Das Experimentieren in Ehren, es darf und soll sein. Leider hat sich dabei das Komponieren vom Menschen, vom singenden Menschen allzu sehr abgewandt, ist allzu sehr den Instrumenten und Apparaten, der Verführung durch die Technik verfallen. Deshalb verspreche ich mir auch von den Produkten aus Stockhausens Studio nicht allzu viel. Ich kenne zwei Schallplatten von ihm. Die eine, „Prozession“, ist für mich eine zusammenhangslose Ansammlung von Schallereignissen, die auf mich dieselbe Wirkung hat wie etwa der Maschinen- und Arbeitslärm in einem modernen Industriebetrieb, auch wenn der Komponist noch so viel konstruktive Bemühung daran gewendet hat. Die andere, „Momente“, zeigt mir, wie ich es ebenso stark kaum einmal bei einer Musik unsrer Zeit empfunden habe, den erschütternden Bankrottzustand unsrer abendländischen Kultur. Ist es nicht der entseelte Mensch von heute, der uns in diesen „Momenten“ entgegentritt und als dessen typischer Vertreter sich Stockhausen, indem er solches komponierte, zu erkennen gibt? Einen noch schlimmeren Eindruck habe ich von Kagel. Wenn die Engländer beim Händelschen Halleluja in der Kirche aufstehen, so möchte ich beim Kagelschen Halleluja aus der Kirche fliehen. Und wenn Kagel Instrumente, die dazu bestimmt sind, edelste oder wenigstens brauchbare Klänge hervorzubringen, nur darauf abtastet, was an unnormalen, missglückten, verunstalteten Klängen aus ihnen herauszuholen ist, und wenn er diese Vorführungen immer wieder durch ein maliziöses Lachen oder Kichern unterbricht, dann muss das doch die Wirkung der lauernden Tücke, der vorsätzlichen Böswilligkeit hervorrufen. An sich ist die Bemühung um neues Klangmaterial und neue Klangwirkungen nicht verwerflich. Aber wenn, wie es bei Kagel der Fall zu sein scheint, Niederträchtiges rechtmäßig an die Stelle de Höhergearteten tritt, wenn, vergleichsweise gesprochen, die Fratzengestalten, die an romanischen oder gotischen Kirchen als Wasserspeier dienen, auf den Altar erhoben werden, dann ist das doch diabolisch.

Für die Musik der Kirche jedenfalls gilt es, zu prüfen und das Gute zu behalten. Das nur Artifizielle kann ihr nicht genügen. Sie hat es mit dem Menschen zu tun, an den sich ihre Botschaft der Hoffnung richtet (weshalb sie in einer gefährdeten Welt und Zeit auch nicht nur Grauen malen kann), und der singend ein wahrhaftiges Lob darbringt. Mit den rasch wechselnden musikalischen Moden unsres Jahrhunderts wird sie sich nicht allzu sehr, nicht auf Gedeih und Verderb verbinden können. Es ist dies, denke ich, kein Fehler, auch wenn sie in ihrer trotzdem vorhandenen Bedeutung unterschätzt werden sollte.

[Württembergische Blätter für Kirchenmusik Mai/Juni 1972]